Die Annahme einer anthropomorphisierten Hypostase bei der Lektüre lyrischer Texte wurde durch die idealistische Gattungspoetik geprägt. Den Ausgangspunkt bildete die von Fr. Schlegel initiierte und anschließend von A. W. Schlegel vollzogene Konzeption des dialektischen Verhältnisses von Epik, Lyrik und Dramatik. Die daraus hervorgegangene feste Bestimmung, dass die Epik als objektive und die Lyrik als subjektive Gattung in der Dramatik zur Synthese geführt werden, wurde in Schellings
Philosophie der Kunst weitergeführt. Dabei abstrahierte er den Dichter als Subjekt der Dichtung und eröffnete dadurch die Möglichkeit, das Subjekt der Lyrik als eigenständige Entität zu beschreiben. Aus den Nachschriften von Hegels
Vorlesungen über die Philosophie der Kunst geht hervor, dass er seit dem Sommersemester 1826 begann, über das Subjekt in diesem Sinne zu sprechen. Im Wintersemester 1828/29 behandelte er es ausdrücklich als eine anthropomorphe Instanz, die von der realen Person des Dichters zu unterscheiden ist. Dieser Ansatz wurde in den von Hotho nach Hegels Tod herausgegebenen
Vorlesungen über die Ästhetik nicht nur übernommen, sondern weiter ausgebaut und gefestigt. Darin wurde auch der Begriff des „lyrischen Subjekts“ eingeführt, der in Vischers
Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen seine stärkste Hypostasierung erreichte. Die Entwicklung der idealistischen Gattungspoetik führte letztlich zur Etablierung des „wissenschaftlichen Animismus“, der in der heutigen Lyriktheorie kritisch hinterfragt wird.
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